Empfehlungssysteme sind nicht nur für große Unternehmen hilfreich.

Das erfährt Martin Pichl, Gast in dieser Episode des DigitalStrategen, täglich aufs Neue. Der Digital Scientist und Unternehmer führt einen traditionellen Handwerksbetrieb vorausschauend und erfolgreich in die digitale Zukunft – und setzt dabei unter anderem auf Recommendation Systems.

Welches Potenzial sich dahinter verbirgt und wie auch KMUs Empfehlungssysteme gewinnbringend einsetzen können, erzählt er praxisnah im Gespräch mit Mario Eckmaier.

Du erfährst außerdem,

  • warum es bei Empfehlungssystemen um Methoden und weniger um Technologie geht, 
  • dass die richtigen Measures für einen Use Case wichtiger sind als der Algorithmus selbst, 
  • was die Tanzbarkeit und Lautstärke von Musik mit Münzen und Medaillen zu tun haben, 
  • ob man Algorithmen klauen kann und darf, 
  • wie Du Deine Mitarbeiter:innen am besten auf die digitale Reise mitnimmst und 
  • warum bei Kommunikationsfehlern manchmal der Uropa einspringen muss. 

Dich erwarten wertvolle Tipps und persönliche Learnings aus dem Alltag eines außergewöhnlichen Unternehmers.  

Von der Papierablage zur Session-aware Communication 

„Recommendation Systems sind generell einfach nur Systeme, die dabei helfen, mit der Informationsflut umzugehen“, erklärt Martin Pichl. Sie kamen in den 90er-Jahren auf, z. B. um E-Mails zu kategorisieren, und funktionierten ähnlich wie eine Papierablage. Mit Amazon und seinem unübersehbaren Produktangebot erfuhren sie eine Weiterentwicklung hin zum kollaborativen Filtern aufgrund des bisherigen Kaufverhaltens.

Mit dem Filtern nach bestimmten Eigenschaften (item-basiert) der gekauften Produkte konnten den Kund:innen ähnliche Waren vorgeschlagen werden; beim user-basierten kollaborativen Filtern erhielten Kund:innen Vorschläge aufgrund des Vergleichs mit den Kaufgewohnheiten ähnlicher User:innen.

Context-aware Recommendations berücksichtigen zusätzliche Faktoren wie Alter, Geschlecht oder das lokale Wetter – Session-aware Recommendations* wie User:innen den Katalog browsen oder sich durchs Sortiment klicken. Bei Sequence-aware Recommendations** wird auch die Reihenfolge der Items in der Kaufhistorie mit in die Berechnungen hineingenommen.

*Session-aware Recommendations können auch als Untergruppe zu Sequence-aware Recommendations gesehen werden

**Die Kaufhistorie wird auch bei Item- oder User-based Collaborative Filtering zur Berechnung genommen, aber ohne die Reihenfolge miteinzubeziehen.

Empfehlungssysteme im Handwerk

Martin Pichl führt sein Familienunternehmen in der siebten Generation. Ursprünglich als Goldschmiede gegründet, hat sich der Handwerksbetrieb mittlerweile auf die Produktion von Abzeichen, Medaillen, Pokalen und Münzen in kleinen Losgrößen spezialisiert.

Als Digital Scientist betreibe er vor allem Technologiescouting, meint Pichl: „Das heißt, ich halte die Augen offen und schaue, wo wir Technologie aus anderen Feldern gebrauchen können. Wir haben z. B. 3D-Scanner aus dem Dentalbereich für uns adaptiert und ich stehe im laufenden Austausch mit der Werkstätte Wattens oder Co-Working Spaces in Südtirol.“ In Zukunft könnten 3D-Drucker oder auch Robotics die Mitarbeiter:innen in der Produktion entlasten.

Hauptsache, der Algorithmus stimmt

In jedem Unternehmen gebe es Anwendungsgebiete für Empfehlungssysteme, ist Pichl überzeugt. Manchmal sind sie offensichtlich, manchmal weniger. Er selbst hat in seinem Unternehmen mit einem Produktempfehlungssystem für den Verkauf gestartet. Der erste Versuch – mittels deskriptiver Datenanalyse, Visualisierungstool und Assoziierungsregeln wurden die Warenkörbe analysiert – funktionierte nicht zufriedenstellend.

„Deshalb habe ich Algorithmen aus einem Uni-Projekt im Musikbereich angewendet“, erinnert sich Martin Pichl: „Aus Faktoren wie Danceability, Loudness, Bits per Minute oder dem Anteil an Gesprochenem wurden Produkteigenschaften wie Farbe, Größe, Material und Preis, nur der Algorithmus blieb gleich – und es hat deutlich besser funktioniert.“

Unterstützung für Vertrieb und Produktion

Der Unternehmer nützt Empfehlungssysteme auch für Erleichterungen im Vertrieb: Um den Aufwand für kleine Bestellungen in regelmäßigen Abständen zu reduzieren, übernimmt ein Algorithmus jetzt den Erstkontakt – in Form eines E-Mails, das Kund:innen aufgrund ihrer Bestellhistorie einen Vorschlag samt Angebot unterbreitet.

„Das wird gerne angenommen“, erzählt Pichl. „Unsere Vertriebsmitarbeiter können sich jetzt auf die Beratung und auf Key Accounts spezialisieren und müssen nicht mehr jeden anrufen und nachfragen.“

Für individuellere Produktionen wie z. B. Münzen für ein Jubiläum kommt hingegen ein textbasiertes Empfehlungssystem zum Einsatz. Hier gehe es nicht darum, den Verkauf zu steigern, sondern darum, die Firma in Erinnerung zu behalten, meint der Digital Scientist. „Wir schauen uns an, was der Kunde bisher bestellt hat und welche Keywords dabei vorgekommen sind. Dann suchen wir passende Keywords und empfehlen dem Kunden per E-Mail einen passenden Blog-Beitrag auf unserer Website.“

Um die Produktion zu unterstützen, eigne sich ein Recommendation System auch für das  Forecasting. Wenn die Produktionsleitung rechtzeitig darüber informiert werde, dass in drei Wochen mit größeren Bestellungen zu rechnen sei, dann könne sie rechtzeitig ihre Vorräte auffüllen.

„Fremde“ Algorithmen und Codes legal nutzen

Sobald ein Algorithmus publiziert wird, dürfe man ihn verwenden, betont Martin Pichl. Da Forschungsergebnisse offen zugänglich sind, dürfe man auch Algorithmen nachbauen. Noch besser wäre es aber, auch den Code dazu zur Verfügung zu stellen. Große Firmen würden das inzwischen auch schon tun. Interessierte können sich diesen herunterladen und mit Beispieldaten ausprobieren, wie sie das System im eigenen Unternehmen einsetzen könnten.

Stolpersteine: Kommunikation ist unerlässlich

Die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes sei bei Mitarbeiter:innen immer vorhanden, wenn es um Automation und Digitalisierung geht. Es sei daher sehr wichtig, klar zu kommunizieren, dass es hier nicht um das Ersetzen, sondern um das Entlasten von Menschen gehe, unterstreicht der Unternehmer.

Aus diesem Grund heiße das firmeninterne Empfehlungssystem inzwischen „Karl“: „Es ist nach meinem Urgroßvater benannt und wirkt so viel persönlicher. Mitarbeiter müssen jetzt keine langen Listen mehr durchforsten, sondern bekommen am Wochenanfang sortierte Vorschläge von Karl. Anrufen und mit den Kund:innen plaudern sollen sie aber natürlich schon selbst.“

Weitere Learnings des Digital Scientists: Vor allem am Anfang sei er zu wenig präsent gewesen. Und er habe zu viel technisches Verständnis bei seinen Mitarbeiter:innen vorausgesetzt.

Eine gute Evaluierung ist die halbe Miete

Wer sich überlegt, im eigenen Unternehmen mit Empfehlungssystemen zu arbeiten, sollte vorher ein fundiertes Framework erstellen, um messen zu können, wie gut der Algorithmus funktioniert, empfiehlt Martin Pichl. „Ich muss wissen, was das Ziel des Projekts sein soll: Will ich möglichst genau predicten oder will ich Produkte mit einem gewissen Deckungsbeitrag? Dieses Framework zu erarbeiten ist am Anfang viel mehr Aufwand als der Algorithmus selbst.“

Um die richtigen Measures für den jeweiligen Use Case zu finden, könne man zum Beispiel den einfachsten Algorithmus mit einem komplexeren vergleichen. Sollte der komplexere nur um 3 % besser abschneiden, stelle sich die Frage, ob man nicht doch lieber mit dem einfacheren Algorithmus arbeiten wolle, den man auch verstehe. Sei die Performance des komplexeren aber viel besser, dann müsse man eher doch ins „deep learning“ gehen, auch wenn die Nachvollziehbarkeit darunter leide.

Know-how extern einkaufen?

Recommendation as a service sei im Kommen, meint Pichl und verweist auf Google und verschiedene Start-ups. Voraussetzung dafür seien jedoch große Datenmengen und strukturierte Daten. „Wenn diese Datenbasis fehlt oder ich meine Daten nicht außer Haus geben möchte, dann ist die externe Auslagerung kein Weg.“

Weitere Alternativen seien, Mitarbeiter:innen im eigenen Unternehmen für diese Arbeit zu gewinnen bzw. anzustellen oder sich für ein Projekt externe Unterstützung zu holen.

„Meine Empfehlung an Unternehmerinnen und Unternehmer ist aber: Beschäftige dich selbst damit! Fange mit kleinen Projekten an – Verständnis für Empfehlungssysteme ist wichtig und ihr Nutzen ist groß.“ Eigene Fortbildung sei hier der Schlüssel – so gibt es zum Beispiel einen sehr praxisnahen Lehrgang für Data Science an der Uni Innsbruck und auch andernorts mittlerweile ein vielfältiges Angebot.

Und in Zukunft?

Recommendation Systems werden in alle Bereiche des Alltags einziehen, ist sich Pichl sicher. Auch wenn das selbstfahrende Auto, das auf der Heimfahrt von der Arbeit bereits das richtige Essen bestellt, ein eher weniger wünschenswertes Szenario sei: Wann man tanken muss, wann Licht und Heizung aus- und eingeschaltet werden müssen, das werde in Zukunft immer mehr von Systemen übernommen werden. Der vielseitig vernetzte Mensch habe nicht mehr den Überblick und könne das nicht mehr alles von Hand steuern.

„Wo der Alltag vereinfacht und erleichtert wird, entsteht Mehrwert und wird der Nutzen von Recommendation Systems sichtbar“, erklärt Martin Pichl. Sich rechtzeitig damit auseinanderzusetzen, helfe nicht nur großen Betrieben – auch für kleinere und mittlere Unternehmen liege darin viel Potenzial.

Über Martin Pichl

Der Wirtschaftswissenschafter & Informatiker ist Unternehmer, Data Scientist und Technik-Enthusiast und als externer Lektor an der Universität Innsbruck sowie an der Fachhochschule Salzburg tätig. Bereits während seines Doktoratsstudiums beschäftigte er sich mit Themen der schwerpunktmäßig mit Recommendation Systems. Seit einigen Jahren ist er außerdem im familieneigenen Unternehmen in der siebten Generation tätig und führt dieses in die Industrie 4.0 Zukunft.

Martin Pichl auf LinkedIn: https://at.linkedin.com/in/martin-pichl

Mario Eckmaier auf LinkedIn: https://www.linkedin.com/in/marioeckmaier/

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